12.9.2025

Zwischen Hypertextroman, Cybertext und Newsletter

Seitdem ich HTML kenne, wollte ich eine Hyperfiction schreiben. Mit dem Rivva-Newsletter bot sich endlich die Chance, das Medium selbst in einen Cybertext zu verwandeln. Ich hatte noch nie davon gehört, dass jemand so etwas versucht hätte.

Und so wurde mein Newsletter zum literarischen Experiment: einen Cybertext in die vertraute Schleife des Newsletters einzuschreiben. Kein Essay, keine Kurzgeschichte, sondern fortlaufende Episoden wie in einem Roman – mit Plot, Wiederkehr und einer Crew, die selbst manchmal nicht weiß, ob sie existiert.

Ich wollte herausfinden: Kann man einen Newsletter so bauen, dass er nicht bloß informiert, sondern sich wie ein Textadventure liest – fragmentiert, verzweigt, verschachtelt?

Wie früher, als HTML noch Handschrift war

Der technische Unterbau ist denkbar simpel: ein Newsletter in HTML. Aber genau das ist der Trick: <a>-Tags als geheime Portale, CSS-Krümel als Tarnung, absichtlich defekte Links als Anker in die Zukunft, bedingte Inhalte und aleatorische URLs.

Die Grundidee: ein Medium hacken, indem man es wörtlich nimmt.
Newsletter = regelmäßige Signale aus der Meerestiefe.
Leser = Funkstationen an der Oberfläche.
Manchmal kommt Antwort.
Manchmal nicht.

Weltbau & Struktur: Ein Boot, eine Route, ein Seepunkt

Im Zentrum der Erzählung steht ein experimentelles Forschungsboot, gesteuert von einer kleinen Crew auf einer rätselhaften Route entlang einer submarinen Lemniskate – der Spur einer liegenden Acht.

Die Fahrten wirken wie wissenschaftliche Missionen, doch die Realität beginnt zu kippen: Erinnerungslücken, gestörte Protokolle und unmögliche Signale deuten auf eine verborgene Struktur der Reise.

In der Mitte der Acht, dem Seepunkt, beginnen viele Dinge – aber sie enden nicht. Die Schleifen scheinen identisch, aber wiederholen sich nicht exakt. Vergangenheit und Zukunft überlagern sich. Identitäten verschwimmen. Signale verzerren.

Mehr will ich nicht spoilern. Ein gutes Mysterium ist am stärksten, wenn es sich seiner eigenen Logik entzieht. Wie eine Acht: geschlossen – und doch offen in der Mitte. „Das Soufflé fällt nur zusammen, wenn man zu viel erklärt“, würde der Smutje kommentieren.

Ein mittelgroßes, leicht abgenutztes Forschungsboot mit blauer Lackierung und weißen Segeln steht scheinbar gestrandet in einer endlosen Wüstenlandschaft. Der Name „Boot“ ist gut sichtbar in weißer Schrift am Bug aufgemalt, wobei das Doppel-o als Unendlichkeitszeichen dargestellt ist. Um das Schiff herum erstreckt sich eine sanft gewellte Dünenlandschaft unter einem blauen Himmel mit vereinzelten Wolken.

Die Lemniskate ist nicht nur Setting, sondern Strukturprinzip: Wiederholung ohne Wiederholung, Spiegelungen, Rückkopplungen.

Die Geschichte entfaltet sich fragmentarisch:

  • Logbucheinträge, Funksprüche, Systemmeldungen
  • ASCII-Glitches und 404-Fehlerseiten
  • alternative Fragmente, Nebentexte, Pseudo-Dokumente
  • Echos, Wiederholungen, Spiegelungen
  • Koordinaten, Anagramme, Zahlencodes (Puzzle-Mechaniken)

Die Reihenfolge verschwimmt. Signale scheinen auf sich selbst zu antworten. Ereignisse widerhallen rückwärts.

Cybertext: Literatur als Maschine

Der Begriff stammt von Espen Aarseth. Cybertexte sind keine bloßen Erzählungen, sie sind Systeme. Man läuft sie ab, arbeitet mit ihnen, statt sie linear zu konsumieren. Die Struktur selbst erzeugt Bedeutung, nicht nur der Inhalt.

  • Ergodic Reading – Arbeit des Lesers:
    Nichtlesen ist eine bewusste Option. Wer weiterkommen will, muss Entscheidungen treffen – und stellt sich den Lesepfad selbst zusammen.

  • Loops, Knoten & Pfade:
    Keine lineare Dramaturgie, sondern Schleifen, Selbstreferenzen, visuelle Codes, spekulative Technologie. Zeit ist hier kein Vektor, sondern eine wiederholbare Fläche. Mehrfaches Lesen erzeugt neue Bedeutungsschichten.

  • Undurchsichtigkeit und Stille:
    Was ausgelassen wird, spricht mit. Das Fehlen von Information wird Teil der Erzählung – ein „unsichtbares Narrativ“, das Leser mitdenken.

Prinzipien der ergodischen Erzählung

Auf die Arbeit am Text heruntergebrochen, heißt das in der Praxis:

  • HTML-Anker in die Zukunft setzen:
    Versteckte oder kryptische Links, die zunächst ins Nichts führen und erst später aktiviert werden. Auch: interne Anker, die rückwärts verlinken – die Geschichte kennt ihren eigenen Index.

  • In Fragmenten schreiben:
    Nicht alles muss aufgelöst werden. Lücken, Auslassungen, offene Enden laden zum Mitdenken ein. Eine Ausgabe nur aus Metadaten, Systemfehlern oder Fragmenten kann dichter wirken als jeder volle Text. Banale Sätze können sich später als Schlüsselstellen entpuppen.

  • Metastruktur als Fundschicht:
    Nicht jede Ausgabe ist ein Kapitel, sondern ein Sektor in einem größeren Textkörper. Statt linearer Chronologie entsteht eine Struktur wie ein Datenfund, die Leser schichtweise, lückenhaft, rekonstruierbar entdecken.

  • Negative Space ≙ Pausen in der Musik:
    Absenz erzeugt Spannung. Eine Episode ohne Signal ist selbst ein Erzählelement. Schweigen, Abbruch, fehlende IDs können spannender sein als jeder volle Absatz.

Fiktion, Spiel, Interface & Lesererfahrung

Cybertexte machen aus Konsumenten Mitproduzenten – und mitunter sogar Mitautoren einer Welt.

  • Als immersives Format:
    Wer aufmerksam liest, wird zum Entdecker.
  • Als digitales Kunstobjekt:
    Jedes Fragment, jeder 404-Link wird Teil eines Gesamtkunstwerks.
  • Als Einladung zum Mitspielen:
    Leser schreiben mit – durch Erinnerung, Klicks, Schweigen.

Resonanzliteratur: Die Story als Spiegel

Gestartet als klassischer Newsletter, transmutierte die Form langsam zu einer semiotischen Tauchausrüstung für Fortgeschrittene.

Ich wollte den Zustand des Internets selbst spiegeln in eine narrative Struktur, die ihn zugleich dokumentiert, beklagt und unterwandert – eine kleine Allegorie über Bewusstsein, Identität, Resonanz und die Verwischung zwischen Mensch, Maschine und Publikum.

Die Crew – Funkerin, Roboto, Wissenschaftsoffizierin – wurde zur Metapher: ihre Stimmen standen für das Überhören, Vergessen, Verstummen. Statt laut zu senden, legte der Text Schweigen frei – als verdichtetes Signal.

So wurde das Experiment zur Parabel über Resonanz: Jede nicht geöffnete E-Mail, jeder nicht geklickte Link wurde Teil der Erzählung. Das Boot wusste am Ende nicht: Ist niemand da oben – oder hört niemand hin?

Die Fiktion spiegelt den Zustand kleiner Internetprojekte im Rauschen.
Vergessen ≙ Aufmerksamkeitsverlust.

Mit Tiefe zu enden heißt nicht, abgeschlossen zu sein – sondern unerreichbar geworden.

Ein Nachklang, wie Musik ohne Instrument.
Ein Echo eines Echos.
Die Form überlebt den Inhalt.

Eine Lemniskate (∞) aus Text.

Wer noch einmal eintauchen möchte:
Das Newsletter-Archiv versammelt alle Ausgaben und ihre versteckten Pfade. Und hier erzähle ich über die Idee und den Entstehungsprozess: Die Schleife war die Nachricht.

Links

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